Was lässt sich bei „Autismus“ machen? (1)

Ich greife auf, was ich bei der „Grundfrage der Erziehung“ geschrieben hatte.

Dass Kinder nicht hören können, war schon immer ein Problem für Eltern, Lehrer und andere Erziehende. Aber jetzt ist es im direkten Sinne des Wortes so gekommen: Kinder hören nicht mehr auf ihren Namen.

„Ben!“, der Sechsjährige hört nicht, geht einfach weiter, dreht sich nicht um. „Benny“, tönt es nun flehentlich. Auch das hat keine Wirkung. Jetzt noch einmal im strengen Ton und ganz offiziell mit Nachnamen: „Ben Müller!!“ Das Ergebnis ist das Gleiche. Lästige Fliegen werden wenigstens noch mit einer Handbewegung verscheucht, aber nicht einmal die gönnt Ben seiner rufenden Mutter.

Die Eltern gehen zur Tagesordnung über: So wie Ben ihre Rufe ignoriert, so ignorieren sie seine Ignoranz. Es ist eben ein Kind und Kinder sind heute nun einmal so und außerdem ist Ben ja ein Autist!! Was kann und soll man da erwarten!?

Es wäre ganz einfach, egal, ob der „Autismus“ mehr biologisch bedingt ist oder mehr sozial durch die individualistische westliche Lebensweise. In beiden Fällen muss pädagogisch etwas getan werden, unter Beachtung der Würde aller beteiligten Personen. Das gilt immer.

Also: Der Junge reagiert auf seinen Namen nicht. Die Eltern stoppen ihn, fassen ihn an seinen Schultern oder an seinem Kopf. Wenn sie von der Autismus-Hypothese überzeugt sind, können und dürfen sie dies allerdings nicht. Sie dürfen ihn dann auf keinen Fall anfassen und machen dadurch, indem sie das tatsächlich tun bzw. nicht tun, alles noch schlimmer. Richtig wäre, ihn langsam, behutsam und konsequent an Berührungen zu gewöhnen, erst ganz kurzen, flüchtigen, dann auch längeren. Außerdem kann er das, was ihm so unangenehm ist, ja vermeiden, indem er gleich, schon auch nur auf Worte hört.

Das ist wieder die einfache Logik, dass jedes Verhalten seine Folge haben muss, keinesfalls nur unangenehme, sondern auch angenehme, je kleiner die Kinder sind, in desto direkterem, kürzerem Zusammenhang. Aber diese Logik ist in den dekadenten westlichen Gesellschaften obsolet geworden.

Zurück zu Ben, der nicht auf seinen Namen hörte: Das Kind wird fest angefasst: Wenn ich dich rufe, bleibst du stehen und siehst mich an! Er will sich freimachen, windet sich. Jetzt ist wieder die Intuition gefragt. Ist dieses Bedürfnis sehr ursprünglich und stark, lassen es die Eltern geschehen, sagen aber noch bestimmt: Du bleibst stehen! Sieh mich an! Hast du das verstanden? Was sollst du tun, wenn ich oder Mama oder ein Lehrer dich rufen?    

Wenn er die Antwort verweigert, fragen ihn die Eltern, je nach ihrer Intuition, bestimmter oder sie lassen es zu. Für den letzteren Fall gilt aber: Sowie er etwas will, das ihm gefällt, einen Film auf dem Tablet sehen zum Beispiel, kommen sie darauf zurück und nehmen den Faden der Erziehung wieder auf: Du hast mir noch nicht geantwortet. Was habe ich dich vorhin gefragt? … Was sollst du machen, wenn ich oder Mama oder ein Lehrer dich rufen? (Im Übrigen ist das ein gutes Gedächtnistraining schon in jungen Jahren.)

Haben die Eltern mit ihrem Kind diese konsequente Nachhaltigkeit noch nicht eingeübt, wird es sich dumm stellen, so tun, als wenn es nicht weiß, was die Eltern wollen. Jetzt müssen sie in die Offensive kommen, den „Spieß umdrehen“. Sie bleiben ruhig und „stoisch“ dabei. Auf sie ist Verlass im Guten wie im „Bösen“, das in Wirklichkeit und letztendlich ja auch gut ist für das Kind. Dann gibt es den Film oder etwas anderes, was das Kind will, eben noch nicht. Allerdings müssen die Eltern dann den kindlichen Protest aushalten können, jedenfalls so lange, bis auch das Kind zumindest einen kleinen Schritt auf die elterlichen Wünsche zugegangen ist. Das ist der Preis dafür, dass sie vorher monate- oder sogar jahrelang den Weg des geringsten Widerstandes gegangen waren.

Wer sich jetzt empören will, dass das Erpressung sei, bedenke: Das ganze Leben ist Erpressung, z.T. brutalster Art: Wenn ich als kleines Kind nicht an der Hand meiner Eltern bleibe und auf die Straße renne, kann ich überfahren werden und dabei tödlich verunglücken. Wenn meine Eltern mich nicht gesund ernähren und eine ruhige Struktur, einschließlich Essenszeiten, in mein Leben bringen, werde ich übergewichtig und krank und muss früher sterben als ein gesund ernährtes Kind. Wenn ich nicht regelmäßig übe, obwohl es mich anstrengt oder langweilt, lerne ich nie lesen, schreiben, Klavierspielen oder Schlittschuhlaufen.  

Diese neue und gute „Ordnung der Liebe“ in den Familien zu etablieren ist sehr schwer, wenn es jahrelang „anders herum“ ging. Da wird es immer wieder zu Rückfällen kommen. Es braucht einen langen Atem und den Zusammenhalt der Erziehenden. Nicht, dass der eine auch wütend sein muss, wenn es der andere ist. Nein! Gerade nicht! Sondern jeder soll auf seine Weise für das eintreten, was das Kind im zwischenmenschlichen Verhalten lernen muss. Wenn der eine wütend ist, ist es gerade gut, wenn wenigstens der andere das Gleiche ruhig und freundlich vertritt, aber auch konstant und „stoisch“.

Handeln alle Erwachsenen, die für das Kind wichtig sind, so, wird es lernen, auf seinen Namen zu hören, auch wenn das je nach Kind sehr lange dauern kann. Dann ist die unerschütterliche erzieherische Selbstgewissheit, verbunden mit einem allgemeinen Lebensoptimismus, wichtig: Zusammen schaffen wir das, wie lange es auch dauern sollte.

 

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